Brücke, nicht Teil

Autor: Bernd Posselt MdEP
Erscheinungsdatum: 30.11.2012

In diesen Wochen ist es hundert Jahre her, seit im ersten Balkankrieg von 1912/13 das letzte europäische Volk, nämlich das albanische, seine Unabhängigkeit vom türkischen Großreich der Osmanen errang. Zehn Jahre später bildete sich mit der republikanischen Türkei jener zentralistische Nationalstaat heraus, der es gegen die Teilungspläne der Siegermächte und Freiheitsbestrebungen verschiedener Nationalitäten schaffte, das kleinasiatische Anatolien zu behaupten. Europäisch ist an der Türkei seitdem nur noch das östliche Thrakien, also 3,2 Prozent des Staatsgebietes.
Dennoch wird seit 90 Jahren, und vor allem heute, sowohl in Europa als auch in der Türkei mit großer Leidenschaft über das Verhältnis beider diskutiert, die häufig irrationale Züge annimmt. Bei den Europäern mischen sich Ängste aus den Türkenkriegen der frühen Neuzeit mit Debatten über die Zukunft der europäischen Einigung; bei den Türken vermengen sich Fragen des nationalen Prestiges mit dem Ringen um die kulturelle Identität.
Die aus Asien kommenen Osmanen errichteten ihr Fürstentum zunächst in Nordwestanatolien, verlegten aber ihre Hauptstadt schon in der nächsten Generation - Ende des 14. Jahrhunderts - ins europäische Adrianopel (Edirne). Konstantinopel (Istanbul) eroberten sie von ihren europäischen Territorien aus und erhoben fortan den Anspruch, Erben des römischen Kaisertums zu sein. Die republikanische Türkei der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts versuchte, alles Asiatische und Arabische aus ihrem kulturellen Erbe zu tilgen, und predigte einen Nationalismus, der im radikalen Flügel der Französischen Revolution wurzelte. Dennoch blieb gerade in der anatolischen Landbevölkerung der Islam die entscheidende Kraft.
Daraus resultieren die extremen innenpolitischen Schwankungen von heute. Die Europäische Union verlangt von ihrem südöstlichen Nachbarn, gleichzeitig laizistisch und demokratisch zu sein. Dies widerspricht sich aber. Der Laizismus mit seiner autoritären Bekämpfung jahrhundertealter osmanischer und islamischer Traditionen war stets ein Minderheitenprojekt und konnte von den Eliten in Verwaltung und Armee immer wieder nur mit undemokratischen Mitteln durchgesetzt werden. Eine wirklich demokratische Türkei wendet sich, was das Ergebnis der ernsthaften Demokratisierungsbestrebungen der letzten Jahre beweist, verstärkt der Religion und dem Erbe des alten Reiches der Sultane und Kalifen zu. Dies ist ganz natürlich und steht keinesfalls im Widerspruch zu wirtschaftlichen und auch kulturellen Modernisierungsbemühungen.
Umgekehrt versteckt sich hinter der europäischen Türkeidebatte die Frage nach dem Europabild. Nicht Christentum und Islam sind hier die Gegensätze; denn den europäischen Charakter muslimisch geprägter Staaten wie Albanien und Bosnien-Herzegowina bestreitet niemand, während weder das christliche Äthiopien noch das christliche Kanada zu Europa zählen. Dennoch geht es darum, die Europäische Union nach der bevorstehenden und unverzichtbaren Erweiterung um den westlichen Balkan nicht noch heterogener werden zu lassen.
In der großen Straßburger Erweiterungsdebatte des Europaparlamentes 2004 verfochten Daniel Cohn-Bendit als Befürworter eines türkischen Beitritts und ich als dessen Gegner zwar völlig unterschiedliche Positionen, doch in einem Punkt waren wir uns einig, den Cohn-Bendit so formulierte: Bei der so genannten Osterweiterung sei die EU in Wahrheit nicht erweitert, sondern nur vereint worden, denn die Aufnahme Polens oder Ungarns sei eine selbtverständliche Pflicht gewesen. Die Türkei hingegen bedeute eine neue Dimension, angesichts derer "man sich so oder so entscheiden kann".
Genau dies muß jetzt geschehen. So etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa zu errichten, ist mit einem demnächst mehr als 100 Millionen Einwohner zählenden, höchstens teileuropäischen Land an der östlichen Peripherie, das sich immer stärker auf seine nationale Eigenständigkeit besinnt, völlig ausgeschlossen. Umgekehrt kann die Türkei ihre Brückenfunktion oder auch die Mittelpunktsrolle, die sie in der "neo-osmanisch" genannten Konzeption der jetzigen Außenpolitik Ankaras einnehmen soll, nicht ausüben, wenn sie Teilstaat einer europäischen Föderation ist.
Eine Brücke steht niemals nur auf einem Ufer, weshalb ein maßgeschneiderter Spezialstatus der Türkei zwischen EU und Orient sowohl den Interessen der Europäer als auch denen der Türken selbst besser entspricht. Dies sachlich herauszuarbeiten, sodaß keine Kränkungen und Verletzungen übrig bleiben, und Modelle bilateraler Zusammenarbeit zu entwickeln, die ausreichend flexibel sind, ist jedenfalls besser, als weiterhin der Illusion einer türkischen Vollmitgliedschaft nachzulaufen, aus der es nur ein für beide Seiten schmerzhaftes Erwachen geben kann.


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