Mißverstandene Demokratie

Autor: Bernd Posselt MdEP
Erscheinungsdatum: 7.11.2012

In einer Zeit, in der fast jeder Demokrat sein will, wird dieser Begriff zunehmend mißverstanden oder verfälscht. Wähler und Gewählte verwechseln ihn allzu oft mit "Demoskopie", also der exakten Wiederspiegelung dessen, was im Moment gerade Mehrheitsmeinung ist. Schon die klassischen Liberalen des 18. und 19. Jahrhunderts warnten vor solchen Fehlinterpretationen und befürchteten, daß daraus entweder Instabilität oder eine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit entstehen könnten, ohne Toleranz und ohne Kompromißfähigkeit. Die Gefahr der Instabilität hat sich in der heutigen, von multimedialen Durchlauferhitzern geprägten Hysteriegesellschaft verschärft. Intolerante Mehrheiten, die Minderheiten keine Luft zum Atmen lassen wollen, erlebt man in den unterschiedlichsten Bereichen, etwa in der Gesundheitspolitik.
Wahre Demokratie ist alles andere als Momentaufnahme des Mehrheitswillens mit Absolutheitsanspruch gegenüber den Regierenden wie gegenüber den Abweichenden. Sie ist nach klassischem Verständnis Herrschaft auf Zeit, das heißt, das Volk delegiert die Entscheidungskompetenz für eine bestimmte Periode an von ihm gewählte Repräsentanten - im Parlamentarismus an eine Vielzahl von Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Meinungen, die nur ihrem Gewissen verantwortlich sind und immer wieder durch Kompromisse zu Mehrheiten gelangen, die auch die Belange von Minderheiten berücksichtigen. Letztere werden außerdem durch die unverzichtbare Koppelung der Demokratie an die Rechtstaatlichkeit geschützt, die die Grund- und Menschenrechte des Einzelnen sowie die der Minderheiten der Mehrheitsentscheidung entzieht.
Solche Selbstverständlichkeiten gehen auch im Bewußtsein von Entscheidungsträgern verloren. Das Referendum, das eine Momentaufnahme des Mehrheitswillens ist, wird gegenüber der repräsentativen Demokratie plötzlich als Volksherrschaft erster Klasse gewertet. Dabei liegt die demokratische Stärke des Parlamentarismus auch in der Kraft der Gewählten, sich Stimmungen und Strömungen während der Legislaturperiode immer wieder antipopulistisch zu widersetzen. Nach vier oder fünf Jahren kann das Volk sie dann dafür belohnen oder bestrafen.
Schon während der Französischen Revolution wurden deren radikale Entgleisungen, wonach ein Wahlkreis während der Amtszeit seinen Delegierten abberufen oder ihn zu einem bestimmten Stimmverhalten zwingen konnte, wieder abgeschafft. Dementsprechend verbieten EU-Vertrag, deutsches Grundgesetz und die Verfassungen fast aller funktionierenden Demokratien das Imperative Mandat und betonen die Unabhängigkeit des Abgeordneten. Diese umfaßt im Parlamentarismus auch das Recht der Volksvertretung, die Exekutive zu wählen, zu kontrollieren und wenn nötig durch eine andere zu ersetzen.
Dieses bei uns seit vielen Jahrzehnten gut funktionierende System droht im öffentlichen Bewußtsein durch eine von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes wie von denen der Europäischen Union nicht gewollte Amerikanisierung ersetzt zu werden. In der Bundesrepublik Deutschland wählt der Bundestag den Bundeskanzler, in der EU das Europaparlament den Kommissionspräsidenten und, nach harter Prüfung der einzelnen Kommissare in den Fachausschüssen, in einem zweiten Akt nocheinmal das ganze Kommissarskollegium. Der Parlamentarismus ist, wenn er funktioniert, mit einer Vielzahl von Abgeordneten nahe am Volk, flexibel und kennt auch innerhalb einer politischen Strömung verschiedene persönliche und programmatische Schattierungen. Aus seinem Wurzelgeflecht gehen immer wieder neue Führungspersönlichkeiten hervor. Wollen wir wirklich, nach dem Modell der USA, die Totalpolarisierung zwischen zuvor völlig unbekannten Kandidaten, die mit gewaltigen Geldern unklarer Herkunft um eine Macht ringen, die der eines starken Monarchen ähnelt? Hat sich nicht unser austariertes System so bewährt, daß wir es trotz mancher Mängel bewahren sollten?
Dann muß es aber vernünftig erklärt werden. Wenn die Wahl von Horst Seehofer zum Bayerischen Ministerpräsidenten von manchen Kommentatoren als undemokratisch abgestempelt wurde, weil dieser ja zuvor "nicht der Kandidat gewesen" sei, so mißverstehen diese Kritiker Abgeordnete als Wahlmänner und Landtags- oder Bundestagswahlen als amerikanische Präsidentschaftswahlen. Der notorische Parlamentarismus-Feind Hans Herbert von Arnim hat diesen Irrtum nun aufgegriffen mit der Forderung, Regierungschefs sollten künftig direkt gewählt werden. Dann beraubt er aber die Volksvertretungen wichtiger Kontrollmöglichkeiten bis hin zur Abwahl der Exekutive und riskiert zudem, daß ausübende und gesetzgebende Gewalt sich noch mehr gegenseitig blockieren als in Washington, weil die Tradition gefestigter Weltanschauungsparteien auf unserem Kontinent stärker ist als in Nordamerika.
Parlamentarismus und repräsentatives System sind gewiß nicht die alleinseligmachende Form von Demokratie; sie haben sich aber bewährt und sollten nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, auch wenn andere, personalisiertere Formen mediengerechter zu sein scheinen.


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