Die neue ungarische Verfassung: Krone und Europa-Fahne

Autor: Bernd Posselt MdEP
Erscheinungsdatum: 16.6.2011

Trotz einer mit viel Herzblut und Kompetenz ausgeübten, erfolgreichen EU-Ratspräsidentschaft und einer tiefen Verankerung im Volk, die Ministerpräsident Viktor Orbán eine Zwei-Drittel-Mehrheit bescherte, ist Ungarns Regierung unter heftigem Beschuß - zuletzt wegen der neuen ungarischen Verfassung. Daß diese, modern und gleichzeitig geschichtsbewußt, wertvoll für Europa ist, meint der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, Bernd Posselt MdEP.

Es ist legitim, auch an demokratischen Verfassungen Kritik zu üben. Die französische ist vielen zu präsidial und zu zentralistisch, die deutsche den einen zu föderalistisch und den anderen nicht föderalistisch genug, die britische existiert überhaupt nicht in schriftlicher Form und besteht aus einem komplizierten Geflecht von Gesetzesakten und Traditionen. Die belgische mag in vielem vorbildlich sein, funktioniert aber nicht, und die italienische regelt zu viele Details, ohne daß sich irgendjemand daran hält.
Statt Ungarns neue Konstitution mit derselben Toleranz und Gelassenheit zu betrachten, solange sie Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit wahrt und stärkt, ist dieser Text europaweit schon in Bausch und Bogen verdammt worden, ohne daß ihn irgendjemand gelesen hätte.
Zugegeben: Die ungarische Nation hätte man in der Präambel vielleicht nicht ganz so oft erwähnen müssen, und manche Formulierung klingt zumindest für nicht-ungarische Ohren pathetisch. Viel pathetischer sind jedoch der Text der Marseillaise, die Thronrede der britischen Königin, die Amtseinführung des US-Präsidenten und seine jährliche Ansprache zur Lage der Nation, um nur Beispiele aus dem angeblich so nüchternen Westen aufzugreifen. Wenn die Niederländer ihre Königin erblicken, singen sie: "Wilhelmus von Oranien bin ich von deutschem Blut". Wer wollte es einem Volk, das von den Osmanen und von den Kommunisten brutal unterdrückt wurde, in der Habsburgermonarchie um mehr Eigenständigkeit rang, in Europa außer den Finnen und Esten keine Verwandten hat und nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Staatsgebietes verlor - die zwar mehrheitlich von Nicht-Ungarn bewohnt waren, in denen aber immerhin ein Drittel der ungarischsprachigen Menschen lebt -, verargen, daß sie in demokratischer Form nach Selbstvergewisserung suchen, die nicht revanchistischer ist als das bayerische "Mir san mir"?
Hinzu kommt, daß "ungarisch" aus den besten Traditionen des Landes heraus auch immer "europäisch" bedeutet - beides sind zwei Seiten von ein und derselben Medaille. Es dürfte keine Verfassung auf unserem Kontinent geben, in der häufiger das Wort "Europa" enthalten ist - nicht als Alibi, sondern als Quintessenz einer Geschichte, die nach der Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg aus dem heidnischen Reitervolk asiatischer Herkunft zutiefst überzeugte christliche Europäer gemacht hat.
Wie in den großen Grundsatzreden von Kohl und Strauß werden die Begriffe "Nation" oder "Volk" auf der einen und "Europa" auf der anderen Seite immer wieder miteinander gekoppelt. So wird darauf hingewiesen, "daß unser König Stephan der Heilige den ungarischen Staat vor tausend Jahren auf feste Grundlagen gestellt und unser Vaterland zum Glied des christlichen Europa gemacht hat." Das ungarische Volk habe "Europa jahrhundertelang in Schlachten verteidigt und dessen gemeinsame Werte mit seiner Begabung und seinem Fleiß bereichert". Ungarns nationale Kultur leiste "einen reichen Beitrag zur Vielfalt der europäischen Einheit".
Konkrete Konsequenzen aus diesem kulturellen Hintergrund zieht unter anderem Artikel E des magyarischen Grundgesetzes: "(1) Im Interesse der Entfaltung der Freiheit, des Wohles und der Sicherheit der europäischen Völker wirkt Ungarn an der Schaffung der europäischen Einheit mit. (2) Ungarn kann im Interesse einer Beteiligung in der Europäischen Union als Mitgliedstaat aufgrund eines internationalen Vertrags ... einzelne verfassungsmäßige Kompetenzen gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten auf dem Weg über die Institutionen der Europäischen Union ausüben." Wären solche Aussagen in einer britischen Konstitution möglich, wenn es sie gäbe?
Ungarns Verfassung ist nicht nur die jüngste in der EU, sie zählt auch zu den modernsten: Sie schützt "die Lebensbedingungen der nach uns Kommenden durch sorgfältige Verwendung unserer materiellen, geistigen und natürlichen Ressourcen", bekennt sich zur Menschenwürde als Grundlage menschlichen Daseins und dazu, "daß sich individuelle Freiheit nur in Zusammenarbeit mit anderen entfalten kann". Wahre Volksherrschaft sei nur dort vorhanden, "wo der Staat seinen Bürgern dient und ihre Anliegen gerecht, mißbrauchsfrei und unparteiisch besorgt."
Der Text verdeutlicht, anders als das in vielen anderen Ländern üblich ist, die vom Kommunismus direkt in den schrankenlosen Kapitalismus gesprungen sind, den Zusammenhang zwischen Arbeit und Menschenwürde, erwähnt die Verpflichtung jedes Einzelnen zur Erfüllung gemeinschaftlicher Aufgaben sowie die Sozialbindung des Eigentums, die so ausgedrückt wird: "Jeder hat das Recht auf Eigentum und Erbschaft. Eigentum verpflichtet zur gesellschaftlichen Verantwortung." Die Präambel ergänzt: "Wir bekennen uns zum Gebot der Hilfe für die Notleidenden und Armen."
Das ökologische Grundprinzip aus dieser Präambel wird in Artikel O nocheinmal aufgegriffen: "(1) Ungarn schützt und bewahrt eine gesunde Umwelt. (2) Die natürlichen Ressourcen, insbesondere Grund und Boden, Trinkwasservorräte und die biologische Vielfalt sowie die kulturellen Werte bilden ein gemeinsames Erbe der Nation, dessen Bewahrung für die künftigen Generationen dem Staat und jedem Einzelnen obliegt."
Auf neuestem Stand sind auch die bioethischen Passagen. In Artikel O Absatz 3 heißt es: "Ungarn schützt die Zeichensprache der Hörbehinderten und Stummen als einen Teil der ungarischen Verfassung". Im Grundrechtekatalog finden sich die Absätze 2 und 3 von Artikel III.: "(2) Es ist untersagt, an einem Menschen ohne dessen nach Auskunft erteilte Zustimmung medizinische oder wissenschaftliche Experimente durchzuführen. (3) Eine auf menschliche Rassenveredelung abzielende Praxis, die Verwendung des menschlichen Körpers oder von Körperteilen zur Erzielung von Gewinn sowie das Klonen von Menschen sind verboten."
Nicht nur sind die in der Verfassung aufgezählten und ausformulierten Grund- und Menschenrechte auf der Höhe der europäischen Entwicklung oder ihr ein ganzes Stück voraus, sondern wie Artikel P, Absatz 3 lautet: "Ungarn respektiert die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, weitere Rechtsquellen des Völkerrechts werden mit ihrer Ratifizierung Bestandteil des ungarischen Rechtssystems." Nebenbei bemerkt: In Ungarn sind die Menschenrechtskonvention des Europarates sowie die EU-Grundrechtecharta uneingeschränkt einklagbar, während Großbritannien und Polen hier für sich eine Ausnahmeregelung erwirkt haben und der tschechische Präsident Klaus für sein Land Ähnliches anstrebt - was bislang aber kaum internationale Proteste nach sich zog.
Harsche Töne vernahm man in vermeintlich fortschrittlichen europäischen Kreisen jedoch gegen Teile des ungarischen Grundgesetzes, in denen von König Stephan und der Heiligen Krone die Rede ist, die angeblich "einseitig christlich" oder gar "klerikal" seien, die gleichgeschlechtliche Gemeinschaften nicht als Ehe definieren, das Lebensrecht auch für Ungeborene festschreiben sowie Ehe und Familie stärken. Bewußt oder unbewußt mißverstanden wurden auch die Passagen zum Thema Volksgruppen und Minderheiten.
Die Erwähnung Stephans des Heiligen kann nur jemand für rückwärtsgewandt oder gar nationalistisch halten, der von der ungarischen Geschichte und Mentalität keine Ahnung hat. Dieser Staatsgründer erhielt seinen Namen bei der Taufe mit Blick auf den Patron des Bistums Passau, aus dem der Donauraum seine wichtigsten Glaubensimpulse empfing. Getauft und maßgeblich erzogen wurde er vom Heiligen Adalbert von Prag, einem böhmisch-weißkroatischen Slavnikiden; zur Frau nahm er die bayerische Prinzessin Gisela. Er ist eine durch und durch europäische und anti-nationalistische Gestalt, was auch in seinem berühmten Testament zum Ausdruck kam. Darin ermahte er seinen Sohn Emmerich (Imre) zur Toleranz und zum aktiven Schutz der verschiedenen Volksgruppen, indem er davon sprach, daß "ein Reich mit nur einer Sprache und nur einer Sitte" ein schwaches und zerbrechliches Gebilde sei. Wer jemals die ergriffenen Gesichter alter und nicht so ganz alter Kommunisten sah, wenn sie am 20. August bei der Budapester Prozession zu Ehren des Heiligen Stephan mitgingen, weiß, daß dieses Erbe zu den Gemeinsamkeiten gehört, die die verschiedenen Lager dieses politisch teilweise sehr zerklüfteten Landes zusammenführen können.
Ähnliches gilt für die Heilige Krone. Gerade in der Zeit der sowjetischen Okkupation spielte die Überlieferung, daß der König die Wahl zwischen einer östlich-byzantinischen und einer westlich-römischen, von Papst Silvester II. verliehenen Krone gehabt habe und sich für zweitere entschied, eine zentrale Rolle als Widerstandsmythos. Stephanskrone hieß: dauerhaftes Bekenntnis zum Westen. Deshalb tauchte sie schon in den Wendejahren ab 1987 bis 1989 auf den Revers, in den Fahnen und Wappen der Bürgerrechts- und Freiheitsbewegung auf, und auch Reformkommunisten betonten ihre Aussagekraft, die nichts mit Monarchie oder Monarchismus zu tun hatte. Der geschmiedete Reif mit dem schiefen Kreuz war für die Magyaren so etwas wie eine jahrhundertealte Europafahne.
Hinzu kam die in der neuen Verfassung betonte Rolle der Krone als Zeichen der staatlichen Kontinuität. Sie wurde in schlechten Zeiten immer wieder versteckt oder vergraben, damit sie nicht in falsche Hände falle. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte sie in den Westen, bis sie US-Präsident Carter dem kommunistischen Kádár-Regime zurückgab. Dagegen protestierten Exilungarn, weil sie davon eine Legitimierung der marxistischen Diktatur befürchteten, und diese strebte eine solche durchaus an, indem sie das alte Staatssymbol in einem Raum im Nationalmuseum ausstellte, der eher sakralen als Schaucharakter hatte.
Otto von Habsburg hat damals schon die Ansicht vertreten, es bestehe die Chance, daß mit der Krone letztlich auch die Freiheit nach Ungarn zurückkomme. Dies bestätigte sich bei seiner ersten Wiedereinreise, die ich 1988 zu organisieren hatte. Sein Plan war es gewesen, in aller Ruhe zur Vitrine im Nationalmuseum zu gehen, um sich dort vor dem Zeichen der ungarischen Eigenstaatlichkeit zu verneigen. Als er auf dem Platz vor dem Gebäude eintraf, waren dort trotz noch bestehender kommunistischer Diktatur durch Mund-zu-Mund-Propaganda Tausende von Menschen zusammengeströmt, die diesen Moment miterleben und gleichzeitig für die Freiheit demonstrieren wollten.
Ungarns Demokraten überführten dann nach der Wende die Krone ins Parlament, wo sie heute noch, wie die neue ungarische Verfassung, die durch sie repräsentierte tausendjährige ungarische Staatlichkeit mit der vom Parlament wiedergespiegelten Volkssouveränität verbindet. Der Verweis auf die Stephanskrone in der Präambel ist so etwas wie der Gottesbezug in der deutschen, polnischen, irischen oder griechischen Verfassung. In Ungarn regierten niemals die Monarchen, sondern Quelle des Rechts war die Krone, auf die diese vereidigt wurden und der sie zum Wohl des Ganzen unter Zurückstellung eigener Interessen zu dienen hatten. Genau so dachten der Hölle des Nationalsozialismus entkommene bundesdeutsche Verfassungsväter wie der Christdemokrat Konrad Adenauer, der Sozialdemokrat Carlo Schmid sowie der Liberale Theodor Heuss, als sie den Gottesbezug formulierten. Es sollte etwas über der Macht des Menschen und der staatlichen Organe geben, das diese relativiert und an das Recht bindet.
Aus der Erwähnung des Christentums im Text folgern liberalistische und zum Teil auch sozialistische Kritiker, die Regierung Orbán sei bei dessen Ausarbeitung klerikalen Ideen gefolgt. Nun muß man wissen, daß fast alle Mitglieder dieses Kabinetts zu den 13 Prozent Reformierten und 3 Prozent Lutheranischen Christen gehören und wie Orbán selbst eher als evangelisch-liberal charakterisiert werden sollten. Auch die mehr als 52 Prozent Katholiken des Landes sind weit von jedem reaktionären Klerikalismus entfernt. Deshalb ist in der Präambel nicht nur das Bekenntnis zum Christentum und zu dessen "die Nationen erhaltender Rolle" formuliert, sondern auch die "Wertschätzung der verschiedenen religiösen Traditionen unseres Landes." Solches kennt weder die französische Verfassung, die religionsblind ist, noch die britische Rechtsordnung, die es nicht-anglikanischen Prinzen nach wie vor verweigert, den Thron zu besteigen.
Sehr detailliert legt Artikel VI fest: "(1) Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit. Dieses Recht umfaßt die freie Wahl oder Änderung der Religion oder sonstigen Überzeugung und die Freiheit, seinen Glauben oder seine anderweitige Überzeugung durch religiöse Handlungen und Rituale oder auf sonstige Weise - sei es individuell oder mit anderen gemeinsam - öffentlich oder in seinem Privatleben zu bekennen, nicht zu bekennen, auszuüben oder zu unterrichten. (2) In Ungarn betätigen sich der Staat und die Kirchen getrennt. Die Kirchen sind selbständig. Der Staat handelt zur Erfüllung gemeinschaftlicher Ziele gemeinsam mit den Kirchen. (3) Ausführliche Regeln in bezug auf die Kirchen werden in einem Schwerpunktgesetz festgelegt."
Polemiken entzündeten sich auch daran, daß zu Beginn des Dokumentes die ersten Worte der Nationalyhmne, "Gott segne den Ungarn" stehen. Ist das so viel weniger akzeptabel als all die anderen entsprechenden Lieder, von "God save the Queen" bis "Gott mit dir, du Land der Bayern"?
Die Aussagen zu Ehe und Familie mögen jenen mißfallen, die beides unterhöhlen wollen. Im deutschen Grundgesetz ist vom besonderen Schutz des Staates für beide die Rede, ohne sie zu definieren, weil diese Begriffe damals völlig eindeutig zu sein schienen. Heute werden sie uminterpretiert und manipuliert, unter anderem dadurch, daß man die klassische Begrifflichkeit für diskriminierend und EU-widrig erklärt. Dies widerfährt derzeit auch Ungarn. Dabei wird vergessen, daß in der EU zwar Diskriminierung mit Recht verboten ist, daß Lissabonner Vertrag und EU-Grundrechtecharta aber, vor allem auf Betreiben des Paneuropäers Ingo Friedrich, eines aufrechten evangelischen Christen aus Bayern, die Definition von Ehe und Familie ausdrücklich den Mitgliedstaaten übertragen. Davon macht Ungarn korrekt Gebrauch, indem Artikel K festhält: "(1) Ungarn schützt die Institution der Ehe als eine Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, die durch freiwillige Entscheidung zustandegekommen ist, sowie die Familie als Grundlage des Fortbestehens der Nation. (2) Ungarn fördert die Entscheidung zum Kind. (3) Der Schutz der Familie wird in einem Schwerpunktgesetz geregelt."
Für Aufregung sorgte in vielen Medien auch die Behauptung, die Donaurepublik habe das Familienwahlrecht eingeführt, das die Mutter für ihre minderjährigen Kinder ausübe. Zum einen entspricht dies nicht den Tatsachen, sondern es "kann" ein solches Gesetz erlassen werden; zum anderen hatten eine solche Regelung in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur Christdemokraten aller Konfessionen gefordert, sondern auch die ehemalige SPD-Bundesfamilienministerin Renate Schmidt. Wenn ein Ungar auf solche Ideen kommt, sind sie plötzlich undemokratisch und faschistoid.
Die Menschenwürde und das Recht auf Leben wurden in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls in der verhängnisvollen Illusion kodifiziert, daß es völlig unzweifelhaft sei, was ein Mensch ist. Artikel 2 des ungarischen Grundrechtekatalogs ist hier aufgrund der Erfahrungen eindeutiger, ohne sich zwangsläufig gleich auf die Ebene des Strafrechts zu begeben: "Die Menschenwürde ist unantastbar. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Menschenwürde, dem Leben des Fötus gebührt ab seiner Empfängnis Schutz."
Nach einem umfassenden Nichtdiskriminierungsartikel wird in Artikel 15 über das Verhältnis von Kindern und Eltern sowie andere zentrale gesellschaftliche Fragen gesprochen: "(1) Jedes Kind hat das Recht auf den zu seiner körperlichen, geistigen und moralischen Entwicklung erforderlichen Schutz und auf eine solche Fürsorge. (2) Die Eltern haben das Recht, die ihren Kindern gebührende Erziehung zu wählen. (3) Die Eltern sind verpflichtet, für ihre minderjährigen Kinder Sorge zu tragen. Diese Verpflichtung umfaßt auch die Schulbildung ihrer Kinder. (4) Die volljährigen Kinder sind verpflichtet, für ihre bedürftigen Eltern zu sorgen. (5) Ungarn schützt mit Sondermaßnahmen Frauen, Senioren und Behinderte."
Europaweit führend ist das neue Grundgesetz auf dem Gebiet der Volksgruppen und Minderheiten, wobei letzterer, kleinere Gruppen herabwürdigender Begriff, entsprechend der Rechtstradition des alten Österreich, nicht benutzt wird. Artikel XXVII hat daher folgenden Wortlaut: "(1) Die in Ungarn lebenden Nationalitäten und Volksgruppen sind staatsbildende Faktoren. Jeder zu einer Nationalität oder einer Volksgruppe gehörende ungarische Staatsangehörige hat das Recht auf freies Bekenntnis zu seiner Identität. Die Nationalitäten und Volksgruppen haben das Recht auf den Gebrauch ihrer Muttersprache, auf den individuellen Namensgebrauch in der eigenen Sprache, auf die Pflege ihrer eigenen Kultur und auf Unterricht in ihrer Muttersprache. (2) Es steht den einheimischen Nationalitäten und Volksgruppen frei, lokale und landesweite Selbstverwaltungskörperschaften einzurichten." Dies ist beste Tradition König Stephans und gleichzeitig modernstes Volksgruppenrecht. Die meisten westeuropäischen Länder sind von solchen Standards weit entfernt und vermischen außerdem traditionell ansässige Volksgruppen und ihre vorstaatlichen Rechte mit den ebenfalls berechtigten, aber andersartigen Belangen von Zuwanderern. Donauschwaben, Kroaten, Serben, Slowaken, Ukrainer, Rumänen und Roma haben in Ungarn eine feste Rechtsgrundlage, während Frankreich erst vor zwei Jahren zumindest die Schutzwürdigkeit von Regionalsprachen vage in der Verfassung verankerte und Deutschland der Meinung war, es genüge, diese Thematik in den Länderverfassungen aufzugreifen. Viele EU-Mitgliedstaaten sind sogar immer noch völlig volksgruppenblind.
Anstoß erregt immer wieder Artikel D: "Ungarn trägt - von der Idee der einheitlichen ungarischen Nation geleitet - die Verantwortung für das Schicksal der außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn, es fördert das Fortbestehen und die Entwicklung ihrer Gemeinschaften, es unterstützt ihre Bestrebungen zur Bewahrung des Ungarntums und es fördert ihre Zusammenarbeit untereinander und mit Ungarn." Natürlich wirkt hier das Trauma von Trianon nach, doch ist es zum Beispiel eine Selbstverständlichkeit für Italien, daß Österreich die offizielle Schutzmacht der Südtiroler ist und von diesen oft nach wie vor als Vaterland bezeichnet wird, ohne daß jemand die Grenzen in Frage stellt. Viele andere europäische Völker kümmern sich ebenfalls durch aktive staatliche Maßnahmen um die außerhalb ihrer Grenzen lebende sprachliche und kulturelle Verwandtschaft - auch die Deutschen, etwa im dänischen Nordschleswig.
Internationale Auswirkung des ungarischen Engagements für seine Volksgruppen ist unter anderem die von Viktor Orbán initiierte EU-Romastrategie, zum verfassungsmäßigen Niederschlag gehört auch, daß ein stellvertretender Ombudsman nur für Volksgruppen und Nationalitäten zuständig ist.
Selbstverständlich hat jeder Mensch und jede politische Richtung ihre eigenen konstitutionellen Vorstellungen. Für Ungarn aber gilt: Die Gewaltenteilung ist gefestigt, der Bruch mit den faschistischen Pfeilkreuzlern und den Kommunisten wird auch verfassungsrechtlich klar vollzogen, die Machtbalance und die verschiedenen demokratisch legitimierten Organe werden gestärkt, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse und Erfahrungen untermauert. Man kann darüber diskutieren, ob es richtig ist, das Verfassungsgericht von der Rechtsprechung über Haushaltsgesetze auszuschließen, solange die Verschuldung über 50 Prozent des Bruttoinlandprodukts liegt - doch vergessen Kritiker geflissentlich, daß sozialistische Mißwirtschaft der Vorgängerregierung in den letzten acht Jahren die jährliche Neuverschuldung weit über solche Grenzen hinausgetrieben hat. Eine Konsolidierung ist dringend geboten, und eine Art Notstandsregelung wie der zur Konsolidierung verpflichtende Budget-Rat hat darin ihre Berechtigung.
Viktor Orbán und die ihn tragende Mehrheit haben Europa eine zeitgemäße und zugleich im klassischen Sinn der Nachhaltigkeit konservative Verfassung geschenkt, zumindest was diesen EU-Mitgliedstaat betrifft. Der Satz in der Präambel, wonach das Grundgesetz "ein Vertrag zwischen den Ungarn der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ist", könnte von Edmund Burke stammen. Vieles ist neu, doch die Grundstruktur des Staates war schon nach der Wende von 1989 durch demokratische Veränderungen der kommunistischen Verfassung entstanden. In der Präambel des provisorischen Dokuments wurde allerdings unzweideutig gesagt, daß dieses "bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung unseres Landes" in Kraft sei. Den daraus sich ergebenden Auftrag haben Ungarns demokratische Institutionen nun erfüllt.


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