Neues aus Versailles

Autor: Bernd Posselt
Erscheinungsdatum: 25.7.2008

Dieser Tage fand in Frankreich, nur eine Woche nach dem 14. Juli, wieder einmal eine, wenn auch nur kleine, Revolution statt - allerdings nicht auf dem Place de la Bastille, sondern in Versailles. Dort hatten jene letzten großen Bourbonenkönige residiert, die das Land zwar absolutisisch zentralisierten, ihren Untertanen aber doch noch weitgehend deren kulturelle Identität ließen. Sie verstanden überhaupt nicht, worin das Problem liegen sollte, wenn man sie etwa darauf hinwies, daß ihre elsässischen und lothringischen Regimenter Deutsch sprachen. Dies sollte die ebenfalls in Versailles konstituierte Nationalversammlung der republikanischen Revolutionäre ganz anders sehen. Von den Jakobinern radikalisiert, fand es die "république une et indivisible" skandalös, daß man im Land um Straßburg "nicht die republikanische Sprache", also Französisch, beherrschte, und dieser Geist lebte in verschiedener Intensität und verschiedenen Varianten bis heute weiter, was auch französische Bretonen, Basken, Okzitanier, Flamen und andere Volksgruppen bestätigen können.
Deshalb war es wirklich eine kleine Revolution, als jetzt der französische Kongreß, der aus Senat und Nationalversammlung besteht, an historischer Stätte, nämlich erneut in Versailles, eine Reform der Verfassung der Fünften Republik beschloß und in Artikel 75-1. lapidar festhielt: "Die Regionalsprachen gehören zum Erbe Frankreichs." Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte diese Veränderung schon vierzehn Tage vorher im Straßburger Europaparlament angekündigt, als er Europas Reichtum an sprachlicher Vielfalt lobte und darin ausdrücklich "Regionalsprachen wie das Korsische" einbezog.
Die vom Präsidenten berufene Kommission, die die Verfassungsreform Frankreichs vorbereitete, hatte ursprünglich noch viel weiter gehen wollen; doch auch die jetzige Formulierung bedeutet einen Tabubruch. Frankreich war etwa selbst den schwachen Regelungen der UNO zum Minderheitenschutz nur unter der Bedingung beigetreten, daß in einer Fußnote festgehalten wurde, in diesem Staat gebe es keine Minderheiten, sondern lediglich Franzosen. Intensive Bemühungen im Europäischen Parlament, die nach der ersten Direktwahl 1979 vor allem vom damaligen Präsidenten der Paneuropa-Union Deutschland und früheren Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel MdEP ausgegangen waren, eine Europäische Volksgruppen- und Minderheitencharta zu schaffen, waren in den achtziger und neunziger Jahren in erster Linie am Widerstand aus Paris gescheitert. Auch im Europarat, der immerhin eine Minderheitenkonvention und eine Charta der Regionalsprachen verabschiedete, gehörte Frankreich aufgrund seiner spezifischen Staatstradition zu den Bremsern.
Eine erste, sachte Veränderung zeichnete sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ab, als die aus dem französischen Baskenland stammende ehemalige Europaabgeordnete Nicole Péry als Ministerin im Auftrag der französischen Regierung einen Bericht über die Lage der Regional- und Minderheitensprachen in Frankreich verfaßte. Wenn es solche Sprachen in diesem Land gab und gibt, muß doch erlaubt sein, davon auszugehen, daß es Menschen beziehungsweise Gruppen gibt, die sie benutzen.
Sicherlich ist der Weg von der bloßen verfassungsmäßigen Anerkennung der Regionalsprachen, die jetzt nach langen Bemühungen zustande kam, zu ihrer Förderung und ihrem wirksamen Schutz in der Praxis noch sehr weit, von der Verwirklichung eines modernen Volksgruppen- und Minderheitenrechtes ganz abgesehen. Die Entwicklung vollzieht sich in einem Schneckentempo; doch immerhin gleitet die Schnecke diesmal in die richtige Richtung.
Dabei bietet das angeblich so finstere Mittelalter eine Fülle von positiven Beispielen. Im 12. Jahrhundert erließ der tschechische Herzog Sobieslav II. für die Prager Deutschen einen 24 Punkte umfassenden Freiheitsbrief, der ihnen Sonderrechte, Selbstverwaltung und die Bewahrung ihrer kulturellen Eigenart gewährleistete. Sobieslav berief sich in dieser Urkunde zudem auf ähnliche Garantien, die bereits sein Großvater Vratislav II. erteilt hatte.
Im 11. Jahrhundert hatte in Ungarn König Stephan der Heilige sein berühmtes Testament verfaßt, in dem er davon sprach, daß ein Reich "mit nur einer Sprache und nur einer Sitte" ein schwaches und zerbrechliches Gebilde sei. Sein Nachfahr König Andreas II., Vater der Heiligen Elisabeth von Thüringen, lockte deutsche Siedler nach Siebenbürgen, indem er sie im Privilegium Andreanum auf dem so genannten Königsboden als "sächsische Nation" anerkannte.
Derartige Schutzmechanismen und Privilegien für kleinere Volksgruppen galten im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit als völlig unproblematisch, ja segensreich. Sie bescherten dem Herrscher neue fleißige Untertanen, also eine kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung seines Landes. Die kleineren nationalen und Sprachgemeinschaften nahmen diesen speziellen Schutz, den man heute positive Diskriminierung nennen würde, dankbar an, weil sie sonst in den größeren Völkern untergegangen wären, und belohnten dieses Entgegenkommen der Herrschenden mit jahrhundertelanger Loyalität und besonderer Produktivität. Auch die Siedlungsgeschichte nach der Befreiung des Donauraumes von den Türken kannte ähnliche Beispiele.
In der habsburgischen Vielvölkermonarchie gab es trotz immer wieder stattfindender zentralistischer Fehlentwicklungen auch eine lange Kontinuität, was die Vielfalt an Sprachen und Volksgruppen beziehungsweise ihre Förderung betraf. So betonte Kaiser Ferdinand II. 1627 in seiner "Verneuerten Landesordnung für Böhmen", daß er beide Landessprachen, also Deutsch und Tschechisch, "in gleicher Weise bewahren und fortpflanzen" wolle, und erließ detaillierte Vorschriften, was ihre Gleichstellung in den Ämtern und vor den Gerichten betraf. Kaiserin Maria Theresia verfügte am 9. Juli 1763, daß ihre deutschsprachigen Beamten in Böhmen und Mähren Tschechisch lernen müßten und daß Eltern und Schulen ihre Kinder "fleißiger in der böhmischen Sprache unterrichten lassen" sollten.
Wegweisend sind bis heute die Sätze in den ersten Verfassungsdokumenten der österreichischen Monarchie Mitte des 19. Jahrhunderts. So hieß es sowohl in den beiden Urkunden von 1849 - der vom Reichstag von Kremsier verfaßten wie auch der wenig später vom jungen Kaiser Franz Joseph oktroyierten - als auch im Staatsgrundgesetz von 1867: "Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache." Die besondere Bedeutung dieses Ansatzes, der auch für das 21. Jahrhundert noch Maßstäbe setzt, ist, daß nicht zwischen Mehrheit und Minderheit unterschieden wird, sondern daß zumindest in der Theorie alle "Volksstämme", ob groß oder klein, gleich gewertet und gewichtet werden. Das Wort "Minderheit" entstand erst später und wurde oftmals mißbraucht, um eine ethnische Gruppe als eine Gemeinschaft minderen Rechts oder gar als minderwertig abzuqualifizieren. Dennoch ist der Begriff Minderheit auch heute noch im Gebrauch und unersetzlich, da sich die Worte "Volksgruppe", "Volksstämme" und "Nationalität" in viele Sprachen nicht oder nicht korrekt übersetzen lassen.
Natürlich klafften auch in der Habsburger-Monarchie Theorie und Praxis oftmals weit auseinander. Die Verfassung las sich zwar sehr präzise, wenn sie ausführte: "Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öfentlichem Leben wird vom Staat anerkannt. In den Ländern, in welchen mehrere Volkstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwangs zur Erlernung der zweiten Landessprache jeder dieser Volkstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält." Doch die Realisierung blieb schwierig, und erst mit dem Mährischen Ausgleich von 1905 entstand ein praktikables Konzept für das gleichberechtigte Zusammenleben mehrerer Volksgruppen in einem sich demokratisierenden Staat, das vor der Zerschlagung der k.u.k. Monarchie zwar nur in einigen ihrer Kronländer übernommen, dafür aber zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in Estland perfektioniert wurde und heute zum Beispiel der Lösung der ethnischen Spannungen in Belgien dient.
An dieses Erbe muß die EU von heute anknüpfen, ohne in die Fehler von damals zu verfallen. In der EU-Grundrechtecharta, im gültigen Vertrag von Nizza und im Reformvertrag von Lissabon gibt es immerhin erste schwache Ansätze dafür, daß die EU künftig nicht mehr "minderheitenblind" ist wie in ihren Gründerjahren. Bei der Umsetzung dieser Prinzipien wird es nicht nur darauf ankommen, daß die Nationalstaaten ihren bisherigen starren Zentralismus auf diesem Gebiet überwinden - rühmliche Ausnahmen wie in Skandinavien oder Südtirol bestätigten bislang nur die eher unerquickliche Regel -, sondern die Europäischen Institutionen müssen lernen, Ungleiches auch ungleich zu behandeln. Dies betrifft vor allem die Unterscheidung zwischen so genannten "alten" Minderheiten, also traditionell ansässigen Volksgruppen, und so genannten "neuen", also den Zuwandererströmen in der modernen Industriegesellschaft. Erstere entstanden entweder durch bäuerliche Niederlassung in sich multiethnisch entwickelnden Monarchien, die keine modernen Nationalstaaten waren und in der Agrargesellschaft versuchten, ein jahrhundertelanges stabiles Nebeneinander traditioneller Siedlungsstrukturen zu gewährleisten, oder durch die Gründung von Nationalstaaten auf Territorien, die schon länger von mehreren Völkern bewohnt waren. Alteingesessene Minderheiten werden in der Wissenschaft daher meist so definiert, daß sie vor der Nationalstaatsidee, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelte, bereits an Ort und Stelle existierten. Zuwanderer hingegen kamen als mobile Arbeitskräfte in eine moderne Industriegesellschaft unter der Bedingung, sich dieser weitgehend anpassen zu müssen.
Sowohl der Europarat, der es den Einzelstaaten überläßt, in einem Register einzutragen, was ihre traditionellen Minderheiten sind, als auch - auf Betreiben des Europaparlamentes - die Institutionen der EU bejahen, daß alle Arten von Minderheiten bestimmte, ihnen adäquate Rechte genießen müssen und keinesfalls diskriminiert werden dürfen. Sie haben aber auch gelernt, daß eine unterschiedslose Vermischung der Probleme alteingesessener Volksgruppen mit jenen der neuen Einwanderergruppen nur dazu führen, daß weder die einen noch die anderen angemessene Garantien und Förderungen erhalten. Daß so genannte Migranten die jeweilige Staatssprache erlernen müssen, um sich integrieren zu können, ist selbstverständlich. Daß aber das kulturelle Erbe der seit Jahrhunderten, zum Teil seit Jahrtausenden ansässigen kleinen Völker und Volksgruppen Europas unverzichtbar zum Wesen unseres Kontinentes gehört, hat mit Frankreich nunmehr auch die einstige Hauptmacht des Zentralismus anerkannt.
Eine EU, die auf dem Balkan die Einhaltung von Volksgruppen- und Minderheitenrechten vorschreibt, sie zur Voraussetzung für Assoziierungen und Beitritte macht, kann im Inneren nicht minderheitenblind bleiben. Es war ein Paneuropäer, Siegbert Alber, der schon vor Jahrzehnten im Europaparlament darauf hinwies, daß in der Europäischen Union auch angeblich große Völker wie Deutsche, Franzosen oder Briten nur Minderheiten sind.


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